Warum wären Sie ein guter Oberbürgermeister für Bielefeld?
Weil ich Bielefeld sehr gut kenne. Ich bin hier aufgewachsen, habe an der Uni Bielefeld studiert und mache seit mehr als 26 Jahren Kommunalpolitik. Ich kenne die Probleme der Stadt.
Laut dem Bundesinnenministerium ist Bielefeld die viertsicherste Stadt in Deutschland. Warum haben Sie das Thema Sicherheit dennoch auf die Agenda gesetzt?
Sicherheit ist zunächst einmal eine Aufgabe des Bundeslandes. Wenn wir von Sicherheit reden, ist also die Ordnung gemeint. Und hier geht es auch um das Sicherheitsempfinden der Menschen in unserer Stadt. Aggressive Betteleien oder der Verkauf von Drogen in der Öffentlichkeit sind zwei Probleme, die in Bielefeld existieren. Viele Bürgerinnen und Bürger haben das Gefühl, dass hier nicht konsequent durchgegriffen wird, während sie selbst aber wegen jedem Falschparken einen Strafzettel erhalten.
Wir sagen: Das Recht gilt für alle und ist auch für alle gleich durchzusetzen. Das bedeutet aber nicht, dass wir etwa Drogendealer vertreiben und so das Problem von einem Ort zum anderen verschieben möchten. Unser Weg sind klare Konzepte, etwa mit einer intensivierten Drogenberatung. Das muss auch immer in Zusammenarbeit mit entsprechenden Stellen wie der Obdachlosenhilfe passieren.
Kürzlich gab es in Frankfurt und Stuttgart Krawalle, an denen laut Polizei hauptsächlich Migranten und Geflüchtete beteiligt waren. Ist etwas Ähnliches auch in Bielefeld möglich? Und falls ja – ist dann nicht eine Ursache auch die Einwanderungspolitik der letzten Jahre?
Den Zusammenhang zur Einwanderungspolitik sehe ich nicht. Es gibt aber viele Menschen, die gerade auch in der Corona-Krise frustriert sind. Das hat sicher auch mit ihren persönlichen Lebensumständen zu tun. Fehlende Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt sind hier wohl das größte Problem. Dieser Frust hat sich dann anscheinend in Frankfurt und Stuttgart entladen. Damit will ich diese Auswüchse aber keinesfalls rechtfertigen. Ich denke, die beste Lösung besteht darin, diesen Menschen berufliche Perspektiven anzubieten. Dazu gehört zum Beispiel auch die Herstellung von Bildungsgerechtigkeit. Menschen, die einer Arbeit nachgehen und sich etwas aufgebaut haben, randalieren in der Regel nicht.
Es wird viel über die Verkehrswende in Bielefeld gesprochen. Was wären aus Ihrer Sicht die drei wichtigsten Aspekte, damit dieses Projekt gelingt?
Sicherlich ein attraktiver Ausbau des ÖPNV. Hier muss eine Menge investiert werden – in höhere Taktzahlen, einen besseren Service und auch in mehr Sicherheit. Der zweite Aspekt ist der Ausbau von Radwegen, aber auch die Erhaltung der bereits vorhandenen Radstrecken. Hier liegt vieles im Argen. Auch die Fußwege müssen besser und attraktiver gestaltet werden. Nur so können wir eine echte Alternative zum Individualverkehr anbieten.
Das bedeutet aber nicht, dass uns die Autofahrer nicht auch am Herzen liegen. Immerhin 52 Prozent der Bielefelder nutzen das Auto. Sie tun dies nicht, um andere zu ärgern, sondern weil es für sie nach wie vor der bequemste und schnellste Weg zur Arbeit, zum Supermarkt oder zum Kindergarten ist. Wir müssen also darüber nachdenken, wie wir die vorhandene Infrastruktur besser nutzen. Ein gutes Beispiel sind SmartApps, die Staus anzeigen. Aber auch die Verkehrslenkung durch eine verbesserte Ampelschaltung spielt eine Rolle.
Sie sagen: Bielefeld müsse zu einem InnovationsCampus in OWL werden. Nun hat Bielefeld bereits eine Universität, mehrere Fachhochschulen und auch die überregional bekannte Founders Foundation. Was fehlt Ihrer Meinung noch?
Die Frage ist eher: Wie können wir das bereits vorhandene Know-how in der Stadt besser nutzen? Wir haben zwar über 40.000 Studierende und viele innovative Einrichtungen – diese sind aber nicht optimal miteinander vernetzt. Das geht nur durch die Digitalisierung. Damit meine ich aber nicht den Breitbandausbau, sondern die verschiedenen Dienste, die über diese Infrastruktur laufen. Ich denke, hier können wir noch viel mehr tun, indem wir auch Unternehmen stärker miteinbeziehen. So könnten wir Wissen entwickeln, das auch für andere Städte wertvoll ist und ein wichtiges Bielefelder Exportgut werden könnte.
Hat der Mittelstand in Bielefeld also noch Nachholbedarf, was die Digitalisierung betrifft?
Ich glaube, wir alle haben hier Nachholbedarf. Das wurde in der Corona-Krise deutlich. Die Stadt Bielefeld müsste viel mehr tun, um die Digitalisierung in der Bildung, aber auch in der Wirtschaft zu fördern. Da ist bisher zu wenig passiert.
Wie könnte der Mittelstand denn darüber hinaus gefördert werden?
Da muss man zunächst die Frage stellen: Welche Zuständigkeit hat eine Kommune? Leider können wir kein Konjunkturprogramm auflegen. Aber natürlich können wir bestimmte Dinge beeinflussen. Ein Beispiel ist das Angebot von Gewerbeflächen. Hier ist aktuell nur ein Hektar Freifläche vorhanden. Nötig wären aber 60 Hektar. Und da sind eventuelle Neuansiedlungen von Unternehmen noch nicht einmal miteinberechnet. Das ist eine große Herausforderung. Mit Gewerbe meine ich übrigens nicht nur die Industrie, sondern auch Startups.
Der zweite Part ist, dass wir Unternehmen Hilfe bei der Koordinierung der Planungsprozesse anbieten. Diese Prozesse sind heute sehr komplex. Deshalb ist es eine gute Sache, wenn die Wirtschaftsentwicklungsgesellschaft „Die Wege“ die Unternehmer bei diesen Prozessen begleitet. Ich höre von vielen Unternehmen, dass sie diese Unterstützung zur Durchsetzung Ihrer Interessen gegenüber den verschiedenen Behörden gerne annehmen.
Der dritte Part betrifft die Kosten. Wir sollten den Gewerbesteuersatz nicht noch weiter hochschrauben. Wir sollten eher versuchen, den Standort Bielefeld attraktiver zu gestalten und so weitere Unternehmen anzulocken.
Nun müssen die Menschen, die in diesen Unternehmen arbeiten ja auch irgendwo leben. Wie möchten Sie mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen?
Wir haben ein geringes Angebot und eine riesige Nachfrage an bezahlbarem Wohnraum. Das führt zu den erhöhten Preisen. Meiner Ansicht nach hilft dann nur: Bauen, bauen, bauen. Das geht aber nur, wenn man entsprechende Flächen ausweist. Da hat Rot-Grün in den letzten Jahren kaum etwas getan. Hinzu kommt eine lähmende Bürokratie mit unzähligen Auflagen. So muss man sich dann nicht wundern, wenn keine günstigen Wohnungen entstehen. Hier kann die Bauwirtschaft keine Wunder vollbringen. Und natürlich kann nicht jeder Bürger sein eigenes Einfamilienhaus haben. Gerade im Zentrum wird hochgeschossiger gebaut werden müssen, damit wir die vorhandenen Flächen besser nutzen. So könnten auch Sharespaces für Startups entstehen – also links die Wohnung, rechts das Büro. Das wäre gerade auch in Uni-Nähe eine gute Möglichkeit, um Bielefeld für Existenzgründer interessanter zu machen.
Allen Gestaltungsmöglichkeiten zum Trotz: Ist Kommunalpolitik nicht manchmal auch furchtbar langweilig?
Das habe ich früher auch gedacht, als ich 1983 in die Politik gegangen bin. Das war die Zeit des NATO-Doppelbeschlusses und gerade in dieser Phase war die Bundespolitik natürlich extrem reizvoll. Ich habe dann aber schnell erkannt, dass Kommunalpolitik einen entscheidenden Vorteil hat. Man kann direkt vor Ort etwas bewegen. Wenn ich nach 26 Jahren Kommunalpolitik durch diese Stadt gehe, sehe ich so viele Ecken und Stellen, an denen ich etwas bewirken oder mitentscheiden konnte. Das ist schon sehr spannend.
Eine Frage zur Bundespolitik: Wen würden Sie denn gerne als nächsten Kanzlerkandidaten der Union sehen?
Das ist eine Frage, die der Parteitag der CDU entscheiden wird. Bisher habe ich Herrn Söder aber so verstanden, dass er seine Zukunft in Bayern sieht. Was die Auswahl der anderen Kandidaten angeht: Hier ist ja noch eine Menge Zeit, um sich zu positionieren und dann werden die CDU-Mitglieder ihre Entscheidung treffen.
Wie würden Sie Menschen von außerhalb Bielefeld erklären. Oder anders gefragt: Was ist Ihrer Meinung nach eine unterschätzte Qualität von Bielefeld?
Bielefeld ist eine der grünsten Großstädte in Deutschland. Es ist verdammt gut und schön hier zu leben. Wir erzählen es nur nicht jedem, damit die nicht alle hierherkommen (lacht).
Mal angenommen, Sie müssten als Oberbürgermeister auf keinen Stadtrat Rücksicht nehmen, sondern könnten ein Projekt ohne Wenn und Aber sofort durchsetzen – welches Projekt wäre das?
Ich würde dafür sorgen, dass die Uni Bielefeld ein zusätzliches X-Gebäude mit rund 30.000 Quadratmetern erhält. Hier könnten sich dann Wirtschaft und Wissenschaft begegnen und zum Beispiel talentierte Absolventen fördern. Das wäre eine riesige Chance für Bielefeld.
Und falls es nicht mit der Wahl klappt? Was ist Ihr Plan B?
Mein Plan B ist, dass ich Plan A umsetze. Falls es aber wider Erwarten nicht funktionieren sollte: Ich würde dann unsere Ratsfraktion in die neue Legislaturperiode führen und so in der Bielefelder Kommunalpolitik mitreden.
Herr Nettelstroth, ich danke Ihnen für das Interview.